Mehr Ehrlichkeit, was die Folgen der russischen Invasion in der Ukraine betrifft, fordern Experten. Seit dem 24. Februar 2022 befinde sich Europa "in einer vollkommen neuen Sicherheitslage", betonte etwa Velina Tchakarova, die Direktorin des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik, am Montagabend in einer Diskussion des "Club Tirol" auf Einladung der APA. Österreich sei zu einer "Insel der sicherheitspolitischen Realitätsverweigerer" geworden, kritisierte sie.
Es brauche eine echte Debatte über die sicherheitspolitischen Risiken und Herausforderungen. "Man muss den Bürgern sagen, was Sache ist", sagte Tchakarova, die auch zwei Offene Briefe für eine sicherheitspolitische Debatte in Österreich unterzeichnet hatte. Sie warnte vor einer "Schleife des Informationskriegs, wo es keinen Exit gibt, wo Wahrheit mit Lüge schon so vermischt sind, dass sich niemand mehr auskennt." Russland führe gleichzeitig mit dem militärischen Angriff auf die Ukraine einen nichtmilitärischen Krieg gegen die europäische Sicherheitsordnung. Europa sei aber nach wie vor sicherheitspolitisch von den USA abhängig. Vieles könnte sich nächstes Jahr ändern, so die Expertin im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen in den USA. Abgesehen von einer Sicherheitsdebatte fehlt Tchakarova ein europäischer Konsens, welches Ziel die EU in der Ukraine eigentlich anstrebe.
Ehrlichkeit forderte auch die Ökonomin Monika Köppl-Turyna vom liberalen Wirtschaftsforschungsinstitut Eco Austria. Die politischen Entscheidungsträger müssten den Menschen klar sagen, "dass es kein Zurück mehr gibt". Derzeit versuche die Regierung, "alles abzufangen". Der Gaspreis habe sich seit 2019 verdreifacht. "Man kann mit Rettungspaketen die Inflation nicht bekämpfen." Es liege nun an Europa, eine wirtschaftliche Transformation zuzulassen und nicht mit Subventionen zu bremsen. Außerdem müsse Europa darauf achten, bei der Energiewende nicht von anderen Staaten abhängig zu werden, die "keine lupenreinen Demokraten" seien. Köppl-Turyna plädiert hier für mehr mittelfristige Planung.
Auf die Rolle der Medien ging APA-Geschäftsführer Clemens Pig ein. Bis zu zwei Drittel aller täglich verfügbaren Inhalte und Nachrichten in Massenmedien und deren digitalen Outlets in Europa basieren direkt oder indirekt auf Material von Nachrichtenagenturen, erläuterte er. Doch nur 20 von 140 Agenturen seien wie die APA staatlich unabhängig. Demgegenüber stünden große Staatsagenturen, die oftmals als Propagandamaschinerien ihrer Regime eingesetzt werden, sagte Clemens Pig, der auch Präsident der Europäischen Nachrichtenagentur-Allianz (EANA) ist. Die EANA hatte die russische Staatsagentur TASS wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine aufgrund harter Zensurmaßnahmen suspendiert. Die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform hat wiederum mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen: Mehr als zehn Prozent ihrer Redakteure seien mittlerweile Soldaten.
Der Wien-Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", Ivo Mijnssen, berichtete, dass der ukrainische Journalismus sich in einer "sehr schwierigen Situation" befinde. Es habe vor dem Krieg zwar eine "Oligarchisierung" der Medienlandschaft gegeben, aber diese sei auch ein "Garant für Diversität" gewesen. Nun leide der Journalismus nicht nur an einem Wegbrechen der wirtschaftlichen Basis, sondern es gebe auch einen "gewissen politischen Druck", so der Journalist, der seit Kriegsausbruch sechsmal in der Ukraine war. Mijnssen bezeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj als Populisten, der versuche, die Medien näher an sich anzubinden. Die großen Fernsehsender seien mittlerweile gleichgeschaltet worden und gestalteten die Abendnachrichten gemeinsam. Häufig handle es sich um "Hurra-Nachrichten" über Kriegserfolge. Dennoch hätten ukrainische Medien einen großen Korruptionsskandal im Verteidigungsministerium aufgedeckt, trotz des Dilemmas, dass die Berichterstattung in Kriegszeiten Russland in die Hände spiele. "Der Journalismus lebt, aber ist zurückgestutzt in der Ukraine", sagte Mijnssen.
ade/an APA0032 2023-02-28/06:00
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